Warum ich für Kurt Beck bin

Sicher war der wohlwollende Applaus für Kurt Beck auf dem Landesparteitag am 21.6. nicht ausschließlich seiner Rede geschuldet und er rührte auch nicht von übergroßer Liebe zum nicht immer glücklich agierenden Parteivorsitzenden her. Wir wissen vermutlich auch, dass Kurt Beck kein wirklich Linker ist. Aber wir wissen auch spätestens seit dem Hamburger Parteitag – Kurt Beck hat verstanden, dass die Agendapolitik reformiert gehört, und zwar sozialdemokratisch reformiert gehört. Und wir wissen: Frank-Walter Steinmeier möchte nur Kanzlerkandidat werden, wenn er seine Erfindung – die Agendapolitik – konsequent weiter betreiben und fortentwickeln kann. Entweder, weil er nicht anders kann oder, weil er nicht anders will.

Man wird gerne in eine sozialtäumerische 70er-Jahre-Ecke gestellt, wenn man nicht akzeptiert, was die Agenda 2010 Großartiges für unser Land geleistet hat – Stichwort Wettbewerbsfähigkeit in der Globalisierung. Auch, wenn noch niemand glaubhaft beweisen konnte, dass Verstärkung der Armut, Aushebelung des Arbeitsschutzes, Mindestlöhne und Abstiegsängste der so umworbenen Mitte uns gegenüber Ländern konkurrenzfähig machen, in denen Menschen für Ihre Arbeit unter unzumutbaren Bedingungen nach wie vor einen Bruchteil dessen verdienen, was selbst in Lohndumping-Branchen im Agenda-Deutschland üblich ist. Und was hat uns die Agenda 2010 noch beschert: eine Partei, die sich links von der SPD etabliert hat – mit den Stimmen all derer, die früher gehofft hatten, die SPD würde – Volkspartei hin, Volkspartei her – hauptsächlich für sie Politik machen und eben nicht nur von sozialer Gerechtigkeit reden.

Das Stimmungstief ist ja nicht der Tatsache geschuldet, dass wir reihenweise Wähler an die CDU und die FDP verlieren, weil unsere Politik nicht genügend die der gesellschaftlichen Mitte ist. Vielmehr können wir nicht vermitteln, dass wir eine Politik der sozialen Gerechtigkeit betreiben – wir können es denen nicht vermitteln, die auf eine solche Politik angewiesen sind. Wir können es denen nicht vermitteln, die traditionell Jahrzehnte die SPD wählten, weil sie die einzige Partei war, die glaubhaft eine Politik des sozialen Ausgleichs betrieben hat.

Es ist keine rückwärtsgewandte linke 70er-Jahre Träumerei, sich gegen eine Kanzlerkandidatur von Stenmeier auszusprechen (an einen Steinmeier-Parteivorsitz möchte ich nicht einmal im Traum denken müssen). Vielmehr hat die Agendapolitik dazu geführt, dass sich Kapitalismus zügelloser entwickelt, dass Mio. Menschen (nämlich all jene, die zusätzlich zu Ihrem Verdienst Gelder aus dem ALG II beziehen) nicht einmal von Ihrer Arbeit leben können, wenn sie vollbeschäftigt sind, dass Arbeitnehmerrechte in vielen kleineren Betrieben nur noch auf dem Papier existieren, dass auch in der Mitte die Angst umgeht – nicht die Angst vor einer Aufweichung der Agendapolitik, sondern die Angst vor dem Abstieg in das Prekariat. Vielleicht macht das die Mitte sehr viel linker, als sie offiziell definiert und auch von der SPD angesehen wird.

Und weil es in meiner naiven Vorstellung von Sozialdemokratie die historische Aufgabe der SPD ist, diese Tendenzen nicht zu verstärken, sondern sie zu bekämpfen oder zumindest sozial abzufedern, deswegen bin ich u. a. Mitglied dieser Partei. Und deswegen will ich es nicht akzeptieren, dass Frank-Walter Steinmeier allen Fehlentwicklungen zum Trotz an seiner Erfindung Agenda 2010 festhält und die SPD im Zuge seiner auch herbei geschriebenen Popularität dazu zwingen will, ihn in der Not nicht nur zum Kanzlerkandidaten zu machen, sondern auch noch ohne Wenn und Aber hinter seiner Agendapolitik zu stehen.

Cui bono? Diese Frage sollte man sich stets stellen. Wem nützt es, wenn Steinmeier Kanzlerkandidat wird? Sicher nicht den Menschen, die bereits zum Prekariat gehören. Sicher nicht den Menschen, die auf dem Weg dorthin sind oder befürchten zu sein. Sicher nicht den Menschen, die meinen, dass Arbeitnehmerrechte, Mitbestimmung u. v. m. eine Errungenschaft und keine Geisel sind. Und vermutlich sicher auch nicht den Menschen, die ein Interesse an einer starken SPD haben. Sollte das vielleicht der Sinn von unzähligen Umfragen und Medienberichten gegen Kurt Beck und für Frank-Walter Steinmeier als Retter der SPD sein?

Vermutlich steht im Wahljahr 2009 eine weitere Rezession oder zumindest ein starkes Absinken des Aufschwungs vor der Tür. Und die Linke wird bei einer Kanzlerkandidatur Steinmeier nichts weiter machen müssen als stets darauf hinzuweisen: “SPD-Steinmeier: Der Mann, der die Agenda 2010 erfunden hat und fortführen will”. Vielleicht können wir uns dann noch einmal in eine große Koalition retten, um in die sozialdemokratische Unkenntlichkeit zu verfallen.

Aber wem würde das nützen? Nicht den Menschen, die auf eine ausgewogene Politik der SPD als Gegenstück zu den ungezügelten Kräften des Marktes angewiesen sind und dafür eine SPD brauchen, die sich ihrer Traditionen und gesellschaftlichen Aufgabe – auch und gerade als Gegenentwurf zu der Fundamentalopposition der Linken – bewusst ist. Wenn die SPD zur besseren CDU/FDP wird, dann hat sie ihre Daseinsberechtigung verloren. Aufgabe der SPD kann es nicht sein, die Agendapolitik uneingeschränkt fortzuführen oder noch nachzuschärfen. Aufgabe der SPD ist es, die Agendapolitik sozial gerecht zu korrigieren. Wir dürfen nicht unsere Gesellschaft globalisierungsgerecht umgestalten wollen, wir müssen die Globalisierung menschlich und sozial gerecht gestalten wollen.

Und weil ich glaube, dass Kurt Beck das im Gegensatz zu Frank-Walter Steinmeier wenigstens im Ansatz erkannt hat (vielleicht auch aufgrund seiner Vita). Und weil ich meine, dass sich die SPD nicht von scheinheiligen Umfragen und Journalisten zu einem Kandidaten und einer Politik zwingen lassen darf, die ihr als Partei nicht nützen kann – weder in Konkurrenz zur CDU/FDP, noch in Konkurrenz zur Linken – deswegen bin ich als linker Sozialdemokrat für Kurt Beck.

Zum Schluss noch eins: Als Sozialdemokrat halte ich auch nicht viel von “Verelendungstheorien”. Die Idee mancher in der SPD, Steinmeier könnte doch jetzt Kanzlerkandidat werden, damit wir ihn dann los sind und danach einen der Unsrigen perspektivisch besser in Stellung bringen können. Diese Idee mag vielleicht bestechend wirken, aber sie ist auch zynisch. Zynisch den Menschen gegenüber, die im Falle von vier weiteren Jahren großer Koalition unter einer Regierung Merkel/Steinmeier nicht viel zu gewinnen, aber weiterhin viel verlieren hätten. Und zynisch einer Partei gegenüber, die in einem Agendawahlkampf verelenden und die Linke weiter stärken würde.

Robert Drewnicki
Abteilungsvorsitzender SPD Neu-Westend
Charlottenburg-Wilmersdorf